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ULTRAS – VERSUCH ÜBER EINE ANHALTENDE MASSENBEWEGUNG

 

Bücher und Texte zur Bewegung der Ultras existieren mittlerweile zahlreiche. Eine Abteilung davon stellen subjektive Erlebnisberichte von Beteiligten dar, die teilweise äusserst lesenswert sind. Um einen solchen soll es sich hier nicht handeln, auch weil solche Schilderungen meist stark historisch gefärbt sind und hier doch eher von der Gegenwart ausgegangen werden soll – wobei diese natürlich als Resultat einer historischen Entwicklung gesehen wird. Dennoch legt der Autor dieser Zeilen wert auf die Feststellung, dass er selbst von dieser Bewegung geprägt wurde und ihr immernoch aktiv verbunden ist. Diese sinnliche Erfahrung wird als Voraussetzung gesehen, sich überhaupt zu diesem Thema äussern zu können, daher soll es sich hierbei somit auch um den Versuch der Theoretisierung einer eigenen Praxis handeln. Damit ist auch die wichtige Abgrenzung einer anderen Art von Zugang zur Ultrà-Bewegung vollzogen. Dieser Zugang richtet sich von Aussen untersuchend an die Bewegegung und versucht sie soziologisch zu erfassen, indem Interviews mit Beteiligten gemacht werden oder durch Umfragen etwa die Klassenzusammensetzung einer Kurve ermittelt werden soll, um die Bewegung im Vergleich zu anderen möglichst exakt vermessen und kategorisieren zu können. (Es sei hier nur kurz angemerkt: Ja, die Ultras sind grösstenteils eine Bewegung der Massen und der einfachen Leute, daher auch unsere Beschäftigung mit ihnen). Und zuletzt soll auch jenes Verhältnis zur Ultrà-Bewegung vermieden werden, das von linker Seite her oft eingenommen wird und bei dem es lediglich darum geht, die Bewegung darauf zu untersuchen, ob sie linker Politik irgendwie nützlich sein könnte. Vielmehr soll hier der bescheidene Versuch gemacht werden, die Bewegung als ganzes ernst zu nehmen und ihr eigentliches Wesen als Totalität zu fassen, so wie es dem Autor in seiner eigenen Erfahrung erschienen ist. Dass ein solcher Versuch fast notwendig scheitern muss, liegt nicht zuletzt daran, dass der Begriff des Ultrà Zentrum einer andauernden Diskussion der Bewegung die er bezeichnet ist. Dabei wird wohl weitaus häufiger festgestellt, wer ihn nicht gebrauchen dürfte, als wem er denn nun eigentlich zusteht. Wahrscheinlich auch darum, weil er vielmehr ein verschwommenes Ideal darstellt, als ein umrissener Begriff mit festen Kriterien der Bedeutung.

I.

IN UN MONDO CHE NON CI VUOLE PIU CANTERO DI PIU

Zentral für die Ultrà-Bewegung ist, dass sie sich um einen Sport, beziehungsweise um ein Spiel herum entwickelt, sei dieses Spiel nun Fussball, Eishockey oder Basketball. Daher sei es erlaubt, hier als Erstes über den Begriff des Spiels nachzudenken. Ein Spiel zeichnet sich zuerst dadurch aus, dass es durch feste Abläufe und Regeln geprägt ist, an die sich die Spielenden, wenn auch freiwillig, unbedingt zu halten haben. Ebenso wichtig ist es jedoch, dass diese Regeln nach Beendigung des Spieles ihre Gültigkeit wieder verlieren. Die Regeln und damit auch das Spiel haben also keine Wirkung über sich hinaus in das „gewöhnliche Leben“. Das Spiel steht vielmehr für einen Gegensatz zum „gewöhnlichen Leben“ und genau dieser Gegensatz macht die Attraktivität des Spiels aus.

Wodurch ist aber dieses „gewöhnliche Leben“ charakterisiert? Für Georg Lukacs ist es „das Prinzip der rationellen Mechanisierung und Kalkulierbarkeit“, das in der modernen kapitalistischen Gesellschaft „sämtliche Erscheinungsformen des Lebens erfassen muss.“ Er geht dabei von Marx‘ Analyse von Arbeit und Ware aus. Diese legt dar, dass Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen von konkreter, qualitativer Arbeit zu abstrakter Arbeit wird, die von der jeweiligen konkreten, qualitativen Sinnlichkeit absieht und quantitativ messbar wird. Diese abstrakte Arbeit bestimmt den Wert der jeweiligen Waren: um so mehr abstrakte Arbeit in einer Ware steckt, umso höher der Wert dieser Ware.

 

Dieser abstrakt-qualitative Warenwert steht wiederum im Widerspruch zu dem sinnlich-qualitativen Wert der Ware, dem sogenannten Gebrauchswert. Der qualitative Gebrauchswert zeichnet sich durch die konkrete Nützlichkeit eines Gegenstandes aus, während der Warenwert sich lediglich dannach richtet, wie viel abstrakte Arbeit in ebendiesem Gegenstand vergegenständlicht ist. Nur der Warenwert ist also quantitativ Messbar und findet seinen Ausdruck letztendlich in der Geldform. Die abstrakte Arbeit und der daraus hervorgehende abstrakte Warenwert lassen sich quantitativ messen. Sie beruhen daher auf rationeller Kalkulierbarkeit, aufgewandte Mittel und daraus erzielter Ertrag lassen sich im vornerein berechnen. Dieses Prinzip, das im Kern der kapitalistischen Ökonomie entstanden ist, finden wir nun zunehmend über die ganze Gesellschaft ausgedehnt. Die Ökonomie und ihre rationellen Sachzwänge bestimmen das, was als Politik bezeichnet wird, beinahe vollständig. Die Unversitäten hinsichtlich ihrer Zweckdienlichkeit für die Wirtschaft umgebaut, der Wissenserwerb lässt sich quantiativ in erworbenen Punkten ausdrücken, in Werbeagenturen werden Emotionen und Kreativität in die abstrakte Warenform gepresst, ebenso wie Fürsorge in Pflegeanstalten oder Informationen in Medienhäusern – Das Prinzip der rationellen Kalkulierbarkeit hat also, wie sich Lukacs ausdrückte, sämtliche Erscheinungsformen des Lebens erfasst.

Das Spiel steht hierzu in einem Gegensatz, denn sein Wert besteht nur in der Freude am Spiel selbst. Ausserhalb davon besitzt es keinen Wert der sich mit quantitativen Grössen ausdrücken liesse. Es folgt so auch keinem Zweck, entzieht sich den Anforderungen von rationeller Kalkulierbarkeit und Nützlichkeit. (Es ist daher kein Wunder, dass das Spiel von den Situationsiten gegenüber dem Spektakel stark gemacht wurde). Das ist die Faszination des Spiels, welche die Ultras mit vielen Anderen teilen. Denn am Anfang der Ultras stand immer das Interesse für das Spiel, wie sich Giovanni Francesio, der grosse Chronist der Ultrà-Bewegung, ausdrückt. Eine Begeisterung für das Irrationale, die selbst äusserst irrational und unvernünftig erscheint. So fällt es tatsächlich vielen Aussenstehenden schwer, die gleichzeitig spielerische Leidenschaft und den wütenden Ernst, mit welchem sich die Ultras dem Spiel widmen, zu verstehen. Wie kann man nur aufgrund eines Spiels, an dem man wohlgemerkt nicht einmal selbst beteiligt ist, seine Arbeit, seine Beziehung, Freunde oder Familie vernachlässigen? Wie kann man soviel Zeit und Geld aufwenden für etwas so sinnlos erscheinendes? Wie kann man sich der Repression des Staates für Nichts aussetzen? Und wie kann man in blutigen Kämpfen seine eigene Gesundheit und die seiner Gegner aufs Spiel setzen wegen eines Spiels, wegen eines Vereins? Natürlich ist all das komplett Sinnlos aus dem Blick des „gewöhnlichen“ Lebens in dem Sinnhaftigkeit mit kalkulierbarem Nutzen und rationellen Zwecken gleichgesetzt wird. Aber es ist aussichtlos, den Ultras diese „Sinnlosigkeit“ ihres Tuns vorzuwerfen, wenn genau sie der Grund des ganzen Treibens ist.

II.

A DIFESA DELLA STORIA – A SOSTEGNO DELLA MAGLIA

In der beschriebenen Konstellation steckt allerdings ein Fehler: Die Ultras spielen gar nicht. Sie sind nur die Zuschauer des Spiels, das sie begeistert. Das bringt sie aber wieder in die Nähe der Prinzipien, von denen sie sich durch das Spiel, zumindest für kurze Zeit, zu befreien suchten: Die Zuschauende, die rein kontemplative Haltung sieht Lukacs als eine Konsequenz der abstrakten Arbeit und sie ist auch die Haltung, mit der sich das kapitalistische Treiben scheinbar „unabhängig vom Bewußtsein, unbeeinflußbar von einer menschlichen Tätigkeit abspielt, sich also als fertiges geschlossenes System offenbart“. Die Problematik, die in dem kontemplativen Verhältnis zum Spiel liegt, spüren aber die Ultras durchaus, denn es gehört gerade zum Wesen dieser Bewegung, dass sie dieses kontemplative Verhältnis zu überwinden sucht. Dieser Versuch ist im Grunde schon im ersten Anfeuerungsruf eines Zuschauers an eine Manschaft enthalten, denn mit diesem versucht der Zuschauer ermutigenden Einfluss auf seine Manschaft und somit auch auf das Spiel zu nehmen.

 

Erst die Ultras machen diesen Versuch jedoch zum tragenden Prinzip ihrer Bewegung. Dazu muss der Versuch der aktiven Einflussnahme allerdings mit allen Mitteln intensiviert werden: weg von vereinzelten Anfeuerungsrufen, hin zu organisierten Gesängen, massenhaften Auswärtsfahrten, gigantischen Choreografien, Megafons, riesigen Fahnen, Feuerwerk und vielem mehr. Doch die Entwicklung trieb die Bewegung weit über diese Einflussnahme hinaus. Steht das Spiel zwar als Kern im Zentrum der Bewegung, so zerfällt diese Bedeutung zunehmend und die Ultras suchen sich von ihm zu emanzipieren. Das Spiel auf den Rängen wird wichtiger, als dasjenige auf dem Feld. Es gilt nicht nur die Mannschaft durch Unterstützung zum Sieg zu tragen, sondern den Sieg selbst zu erringen, durch lautere Gesänge, kreativere Choreografien oder Überlegenheit im direkten Kampf. Und es ist auf eine gewisse Art auch ein Eintreten für das qualitativ-irrationale, wenn es die Ultras zum Ideal erklären, um so lauter zu singen, je höher die quantiative Niederlage der Manschaft ausfällt.

Aber für die Erodierung der Bedeutung die das eigentliche Spiel für die Ultras hat, ist massgeblich auch die Entwicklung dieses Spiels verantwortlich. So wurde hier bisher recht naiv vom sportlichen Spiel als etwas gesprochen, dass der rationalen Verwertbarkeit entgegengesetzt ist. Doch eine solche Beschreibung entspricht längst nicht mehr der Realität. Der Kapitalismus tendiert dazu, die Warenform auf immer neue Bereiche auszubreiten und sie der Logik von Verwertbarkeit, Profit und rationeller Kalkulierbarkeit zu unterwerfen. Natürlich hat diese Entwicklung den Sport längst erfasst, insbesondere auch den Fussball, in dem sich die Ultrà-Bewegung entwickelte. Sportvereine sind Aktiengesellschaften, Spieler gutbezahlte Angestellte und mit Werbeeinnahmen, TV-Rechten oder Fanartikelverkauf werden Millionen umgesetzt. Die Ultras prägten dafür den Begriff des „Modernen Sport“, den sie für die Kommerzialisierung des Spiels verantwortlich machen und an verschiedenen Fronten zu bekämpfen versuchen. Aber es sind nicht nur einzelne Inverventionen gegen besondere Auswüchse des Modernen Sports welche die Ultras diesen Entwicklungen entgegenzusetzen versuchen. Vielmehr versuchen sie sich als Bewegung auf die Werte zu gründen, die sie zunehmend durch den Einfluss des Kapitals bedroht sehen und vor diesem zu verteidigen suchen: Emotionen, Kreativität, Tradition, bedingungslose Liebe zum Verein als antagonistischer Widerspruch zur rationellen Kalkulierbarkeit und kalten Verwertungslogik des Kapitals.

Da sich die Entwicklung des Modernen Sports auch durch die Ultras nicht aufhalten lässt, erfolgt zwangsläufig jener beschriebene Zerfall der Bedeutung des eigentlichen Spiels als Kern des Ganzen Geschehens. Dies erstreckt sich auch auf die jeweiligen Vereine, denn auch wenn die Ultras vom Spiel begeistert sind, drückt sich diese Begeisterung immer nur durch einen jeweiligen Verein aus. Nun stehen die Ultras jedoch von dem Problem, dass der von ihnen so heiss geliebte Verein eine von Grossinvestoren zu Gewinnzwecken geführte Unternehmung geworden ist. Und die Spieler für die sie singen, sind nichts weiter als gutbezahlte Angestellte, die bei einem besseren Stellenangebot sofort ihre Sachen packen und weiterziehen. Dass führt nicht nur zu einer verstärkten Betonung der Kurven selbst, sondern auch zu einer Verschiebung weg vom real existierenden Verein, hin zu der Vorstellung eines Idealen Vereins. So ist es für viele Ultras typisch, keine offiziellen Produkte des Vereins zu kaufen, sondern ihre eigenen herzustellen, sich nicht als offizielle Fanclubs eintragen zu lassen und allgemein zwar zu versuchen, auf den Verein einzuwirken, aber stets als Kraft von Aussen, die sich nicht in die Vereinstruktur integrieren lässt. Dagegen wird eine Art Idealbild des Vereins gesetzt, wie ihn sich die Ultras im Gegensatz zum Modernen Sport vorstellen. Ein Verein der eine Art organische Einheit mit der jeweiligen Region bildet, ein Verein des Volkes, der Wert auf seine Traditionen legt mit Spielern, die sich mit ihrem Verein, dessen Herkunft, Geschichte und dessen Anhängern identifizieren und daher in jedem Spiel so für die Ideale kämpfen sollen, wie dies auch die Ultras tun. Oft wird dieses Idealbild des Vereins auch in einer unbestimmten Vergangenheit verortet, deshalb sind die Gründungszahlen der Vereine, die erstem Manschaftsfotos und die alten Logos oder Stadien der Verein für die Ultras auch von so grosser Wichtigkeit. Letztendlich singen die Ultras für dieses Idealbild des Vereins und seiner Spieler und viel weniger als in dem real existierenden Verein und seinen Spielern sehen sie dieses Ideal in der Kurve selbst verortet.

Erster Exkurs: Die Ultras als romantische Bewegung?

Eine Ablehnung des Alltäglichen, des Vernünftigen und quantitativen messbaren. Dagegen eine Betonung des qualitativ-irrationalen, der Emotionen und Leidenschaften. Dazu eine Verklärung von wenigen Elementen der Gegenwart, aber vorallem auch der Bezug auf eine idealisierte Vergangenheit, die zur Kritik der Gegenwart dient – all diese Merkmale, die bisher zur Charakterisierung der Ultrà-Bewegung erläutert wurden, treffen auch auf eine philosophisch-künstlerische Bewegung zu, die sich ganz zu Beginn der europäischen Moderne verorten lässt. Tatsächlich kann es erhellend sein, die Ultrà-Bewegung mit der Romantik zu vergleichen. Die Romantik war die geistige Strömung, welche den entstehenden Kapitalismus als erste umfassend kritisierte und in Frage stellte, wenn sie auch die Ursache von Phänomenen wie Entfremdung, Verdinglichung und Industriealisierung noch nicht richtig erfassen konnte. Den Gegensatz zur rationalistisch-kapitalistischen Moderne, zu „Mechanisierung und Kalkulierbarkeit“ suchten die Romantiker vor allem im Reich von Kunst und Poesie, als schöpferisch-kreative Aktivität, die jenseits der kritisierten Gegenwart stehen sollte.

Diese Flucht ist derjenigen der Ultras in das Irrationale des Spiels nicht unähnlich. Interessant macht den Vergleich aber auch die Ambivalenz der Bewertung der Romantik, die sowohl über fortschrittliche wie reaktionäre Elemente verfügt. Während in den Schriften von Novalis oder den Bildern von Caspar David Friedrich auch für das heutige Publikum eine utopisch-revolutionäre Seite klar durchschimmert, kann der Bezug der Romantik auf eine vormoderne Vergangenheit auch ins Reaktionäre umkippen. Auch in der Ultrà-Bewegung finden wir einen Bezug auf Tradition und idealisierte Vergangenheit der durchaus problematisch sein kann und diejenigen Linken, die stets nach Gründen suchen, Bewegungen als reaktionär abzutun, werden hier mit Sicherheit fündig. Doch sollte auch gesagt sein, dass hinter einer idealisierten Darstellung der Vergangenheit immer auch eine Kritik der Gegenwart steht, die ernst genommen werden sollte. Wenn Ludwig Richter in seinen märchenhaften Mittelalterdarstellungen eine ideale Einheit von Mensch und Natur darstellt oder Delacroix im Orientalischen die verlorengegangene Sinnlichkeit und Zauberhaftigkeit wiederzufinden glaubt, so stecken darin nicht nur reaktionäre oder orientalistische Vorstellungen, sondern auch immer eine Kritik des gegenwärtig Bestehenden.

Zweiter Exkurs: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“

Mit dem Begriff Ultrà verhält es sich in etwa wie mit gutem Käse oder Wein, den man in den Ferien im Süden gekauft hat. Nachdem er die Alpen nordwärts überquert hat, will er einfach nicht mehr gleich gut munden, wie das vorher in seiner angestammten Umgebung der Fall war. Tatächlich ist Italien als Ursprungsort der Ultras so zentral für die Bewegung, dass manche schon Zweifel daran haben, ob der Begriff sich ausserhalb des Landes, insbesondere im Norden, überhaupt anwenden lässt. In den letzten Jahrhunderten reisten die jungen Angehörigen der europäischen Oberschichten als eine Art Initiationsritus auf ihren Grand Tours nach Italien , um das von den Dichtern und Künstlern so vielgepriesene Land als eine Wiege eurpäischer Kultur zu erkunden. Heute reisen junge europäische Ultras nach Italien um den Ursprüngen ihrer Bewegung nachzuspüren und die legendären Kurven, wo vor über 30 Jahren alles seinen Anfang nahm, einmal mit eigenen Augen zu sehen. Kaum ein Ultrà, der nicht wie Goethe im Zuge seiner Italienreise ausrufen könnte: „Auch ich war in Arkadien!“.

Doch ähnlich wie es vielen Teilnehmern der früheren Grand Tours erging, als sie enttäuscht feststellen mussten, dass ihr idealisiertes Bild Italiens kaum der Realität entsprach, mag es heute auch dem einen oder anderen Ultrà gehen. Die Entwicklung des Fussballs, die Repression des Staates und die Korruption, die auch vor den Ultrà-Gruppen nicht halt macht, führte dazu, dass viele grosse Kurven nur noch ein Schatten ihrer selbst sind und an die zerfallenden italienischen Stadien gemahnen. Adorno liefert dafür, freilich anhand eines anderen Gegenstandes, die passende Beschreibung: „So ist auch das Italien des Gedichts nicht bestätigtes Ziel der Sinne, sondern selber wiederum nur Allegorie der Sehnsucht, voll des Ausdrucks der Vergängnis, des Verwilderten, kaum Gegenwart.“

Dennoch lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die historische Genese der Ultras in Italien zu werfen. Giovanni Francesio, den wir schon einmal zitiert haben, legt wert auf die Tatsache, dass es die Fahnen, Schals und Trommeln in den Stadien schon lange vor den Ultras gab. Selbiges trifft für ihn auch auf die Gewalt zu, die im Umfeld der Spiele schon zuvor existiert habe. Was er als das eigentlich Neue der Bewegung charakterisiert, nennt er die antagonistische Dimension des Supports. Die findet für ihn erst 1968 Eingang in die Stadien und wird durch die Exponenten der revolutionären Linken in die Stadien getragen. Nicht im Sinne einer politischen „Vereinnahmung“ sondern durch Leute, die schon zuvor in der Kurve standen und nun Teil der gewaltigen Dynamik der Bewegung von 1968 wurden. Davon waren die Transparente und Megaphons, die Melodien der Partisanenlieder, aber auch die Namen der Gruppen wie Brigate Rossonere nur die augenscheinlichste Folge. Fundamentaler war es, dass Ultrà sein nun bedeutete: „in jedem Fall gegen etwas zu sein und zu fühlen, selbst nur irgendwie unklar, selbst nur oberflächlich“

IV.

NIENTE INCONTRI SOLO SCONTRI

Sprechen wir nochmals ein Thema an, dass bereits da und dort angeklungen ist: Die Gewalt der Ultras. Damit ist weniger die Gewalt gegen die Polizei oder die Sicherheitsdienste gemeint, vor denen die Ultras ihre Unkontrolliertheit verteidigen. Vielmehr ist die Gewalt der Ultras untereinander gemeint. Hier hört für alle der Spass auf. Für die linken Kritiker oder Bewunderer der Ultras mag deren fanatische Anhängerschaft für einen Verein zwar befremdend wirken, aber das politische Engagement der Ultras gegen den Modernen Sport und die Repression des Staates macht das wieder wett – wären da nur nicht diese Auseinandersetzungen. Die Vereine und Verbände könnten zwar mit der Leidenschaft und der Kreativität der Ultras leben, zumal dadurch das Erlebnis des Stadionbesuches auch eine Aufwertung erfahren kann, aber die Gewalt wird entschieden bekämpft. Von allen Seiten wird Versucht, die Gewalt als schlechte Seite der Ultras, von der guten Seite – wahlweise der leidenschaftliche Support oder die politische Aktivität – zu trennen. Dabei wird nicht verstanden, dass auch die Auseinandersetzungen ein organischer Bestandteil dessen ist, was die Totalität der Ultrà-Bewegung ausmacht und nicht von den anderen Teilen getrennt und isoliert werden kann.

 

Um Missverständnisen vorzubeugen: Es ist nicht so, dass die Ultras andauernd nur auf Gewalt aus wären. Und mit jenen Leuten, die sich in abgelegenen Waldstücken als eine Art privates Sportvergnügen die Köpfe einschlagen, haben sie wenig gemein. Dennoch lassen sich die sporadischen Auseinandersetzungen zwischen den Ultras von all jenen Merkmalen, die bisher für die Bewegung genannt wurden, kaum trennen. Sie werden von den Ultras als ein Ausdruck einer Leidenschaft gesehen, die sich nicht in angepassten Bahnen bewegen will. Bocia, eine Führungsfigur der Ultras von Atalanta Bergamo, sagt in einem Interview nicht nur, dass es die Ultras seien, welche die wahren Werte und Leidenschaften des Sports noch aufrecht erhalten, sondern auch, dass die Kämpfe kein Produkt krimineller Energien, sondern eben eines jener Leidenschaften seien. Natürlich habe jeder das Recht, diese Ansicht abzulehnen, aber die Auseinandersetzungen der Ultras seien für sie deshalb der schönste Anblick überhaupt, weil sie immer von Herzen kämen (..scontro è la cosa più bella che possiamo vedere perché è la cosa che detta al cuore, sempre.)

 

Es ist die selbe Leidenschaft, die in der unbedingten Unterstützung des Vereins von vielen als positiv angesehen wird, die hier in anderer, vielleicht sogar höherer Form zum Ausdruck kommt. Entgegen allen anderen Beteuerungen sind es eben dieselben Ultras, welche mit der Ästhetik ihrer Fahnen und der Kreativität ihrer Choreografien auffallen, die dannach in eine Auseinandersetzung vor dem Stadion geraten. Zwei Phänomene die Ausdruck derselben Bewegung sind und die sich keinesfalls unvereinbar gegenüberzustehen scheinen, sondern zwischen denen vielmehr ein dialektische Verhältnis zu bestehen scheint. So werden wir kaum eine der grossen, für ihr Auftreten im Stadion von allen bewunderten, Kurven finden, die nicht auch ein respektabler Gegner auf der Strasse wäre. Im Gegensatz dazu gab es durchaus den Versuch, die Stimmungsmittel der Ultras von ihrer Militanz zu trennen. Insbesondere Seitens der Vereine, welche offiziell eingebundene Fanclubs dazu benützen wollten, eine angepasste Alternative zu den von ihnen bekämpften Ultras zu schaffen, aber auch in dem Sponsoren versuchten, sich die gestalterischen Mittel der Ultras zu Werbezwecken anzueignen. Doch jedem, der zumindest ein wenig davon versteht, musste das blutleere Auftreten und die mangelnde Kreativität dieser hohlen Attrappe auffallen.

Die Auseinandersetzungen stellen einerseits eine weitere Konsequenz aus dem Versuch dar, die kontemplative Haltung des Zuschauers zu überwinden und den Sieg in die eigenen Hände zu nehmen. Anererseits entziehen sich die Auseinandersetzungen den Prinzipien von Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Kalkulierbarkeit komplett und sorgen gerade darum für so viel Kopfschütteln. Sie treiben das Irrationale der Bewegung gewissermassen auf die Spitze. So sind die Auseinandersetzungen der Ultras auch derjenige Teil der Bewegung, der sich absolut nicht in die Verwertungslogik des Modernen Sports integrieren lässt, während dies bei anderen Aktionsformen der Bewegung – dem akustischen und optischen Support – durchaus versucht wird.

Es kann daher aus revolutionärer Sicht nicht darum gehen, einzelne Elemente der Ultrà-Bewegung voneinander isoliert zu betrachten und gegeneinander abzuwiegen. Es ist die Totalität aus verschiedenen Elementen, welche die Bewegung zu einem organischen Ganzen formt und die als solche erfasst werden muss. Es ist unzweifelhaft, dass sich grosste Teile der Linken in ihrer falschen Sehnsucht nach Harmonie und Synthese von dem wilden und unkontrollierten Wesen dieser Bewegung bedroht fühlen. Aber diese Haltung hat unserer Ansicht nach nichts mit einer revolutionären Position zu tun, die immer noch gut daran tut, sich nach dem einstigen Diktum der chinesischen Kommunisten zu richten: Keine Furcht vor den Massen, keine Angst vor der Unordnung!

Die Bewegung der Ultras hält jedoch auch eine Lektion über das Politische bereit. Es gibt eine Ansicht, welche die Ultras als eine Erscheinung der Abwendung von der Politik betrachtet, weg von der Strasse, hinein in die Stadien. Uns scheinen jedoch umgekehrt die Ultras eine Ausweitung des Politischen auf einen neuen Bereich zu sein, in dem sich das Unbehagen über das Bestehende und vielleicht auch die Ahnung eines Besseren ausdrücken kann. So haben die italienischen Operaisten zu der Zeit der Entstehung der Ultras den Begriff der fabrica diffusa geprägt, in der sich nicht nur das System der Fabrik über die ganze Stadt ausprägt, sondern auch der Widerstand dagegen. Die Ultras sind daher nicht erst dann politisch, wenn sie sich einer explizit linken Symbolik bedienen oder Transparente mit entsprechenden Forderungen hochhalten. Vielmehr ist die Bewegung an sich Ausdruck des Politischen und verkörpert dieses für uns mehr, als die zahlreichen Parteien, welche sich damit zu schmücken suchen. Daher auch unser Anspruch diese Bewegung als Ganzes ernst zu nehmen und uns ihr weder als Politikberater anzubiedern, noch sie nach unseren Kriterien umgestalten zu wollen, sondern in erster Linie von ihr zu lernen. 

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